Erst stehen sie noch etwas schüchtern am Eingang, umklammern die Hände ihrer Eltern und schauen mit großen Augen auf das unbekannte Schulgebäude – aber dann ist auch schon für die ersten das Eis gebrochen und sie rennen begeistert auf den Schulhof hinaus: So viel wunderbarer Platz zum Spielen! Leider wird es kurz darauf schon Ernst: Die Spielbegeisterung muss für die Pause aufgehoben werden, denn der Unterricht geht los. Noch ist alles neu – dort, wo sonst neun Klassen, einheitlich in Schuluniform gekleidet, schöne ordentliche Reihen bilden, stehen an diesem Nachmittag kunterbunte wirre Schlangen, die vor Aufregung gar nicht zur Ruhe kommen können. Macht nichts! Das Aufreihen werden die Kinder bald lernen, und Schuluniformen sind auch schon bestellt. Jetzt heißt es erst einmal, die Kinder willkommen zu heißen, eine einladende Atmosphäre zu schaffen und zu vermitteln, dass Schule auch mit Disziplin so richtig Spaß machen kann!
Dieser Dienstag ist ein großes Ereignis im Leben der knapp 100 Kinder: für viele das erste Mal, oder zumindest das erste Mal seit langem, dass sie in eine „richtige“ Schule gehen. Wegen Bürgerkrieg und Flucht haben die Kinder so viel Unterricht verpasst, dass sie in regulären Schulen nicht registriert werden können. Seit Sommer 2014 gibt es für solche Kinder in Beirut ein besonderes Programm, genannt „STEP“, das ihnen etwas Unterricht bietet und sich um ihre sozialen Bedürfnisse kümmert, allerdings eine reguläre Schule nicht vollständig ersetzt.
An diesem Dienstag im November 2019 ist es nicht nur Mrs Caroline, die Leiterin von STEP, die die Kinder begrüßt. Auch Miss Marlene, die Schulleiterin der NES-Schule in Beirut, lächelt den Schülern entgegen. „Das sind alles Kinder, die in keine andere Schule gehen könnten“, erklärt sie später. „In den öffentlichen Schulen ist kein Platz für sie. Vor allem jetzt, wo durch die Wirtschaftskrise immer mehr Libanesen in öffentliche Schulen wechseln – für Syrer ist da kein Platz. Vielleicht können wir einige bald in die NES aufnehmen – mal sehen. Wir müssen das erst beobachten.“
Das war ursprünglich der Gedanke des STEP-Programms: dass Kinder durch Nachhilfeunterricht das verpasste Lernen genügend aufholen können, um dann in einer „richtigen“ Schule einen Schulplatz bekommen zu können. Leider zeigte die Erfahrung, dass das nicht so einfach war. Zwar erfüllte das STEP-Programm eine wichtige Rolle im Leben der Kinder, die sonst wohl untätig zuhause oder auf der Straße herumgesessen wären, jedoch schaffte es bisher kein Kind, tatsächlich in eine „normale Schule“ zu wechseln.
Im Herbst 2019 wurde also das Programm sorgfältig evaluiert und völlig neu strukturiert. Was konnte aus den Erfahrungen gelernt werden, und was wird jetzt anders gemacht?
1) Da STEP in einem Kirchengebäude stattfand, waren die Räumlichkeiten problematisch. Der Raum für die Kindergartenkinder war deutlich zu klein. Die anderen Klassen wurden im Kirchsaal unterrichtet, dafür wurden jeweils Raumteiler aufgestellt. Das bedeutete, dass der Unterricht in Kreativität und Aktivitäten stark eingeschränkt war; die Kinder saßen bloß um runde Tische und konnten sich nicht durch den Raum bewegen. Das war vor allem für jüngere Schüler sehr schwierig und ihrem Lernstil nicht angebracht.
2) Die Kinder wurden in drei gemischten Klassen unterrichtet – nicht nach Jahrgangsstufe, sondern nach Fach. Dadurch waren zum Beispiel in einer Klasse Schüler im Alter von 7, 10, 13, 15 Jahren; das verursachte einige Probleme, da sie durch den Altersunterschied oft in Streit geritten oder nicht genügend Rücksicht nahmen.
3) Nur drei Fächer wurden angeboten: Arabisch, Englisch und Mathematik.
4) Es gab keine ordentliche Fläche für die Pause, für Spiel oder Sport; nur der überdachte Eingangsbereich vor dem Kirchsaal.
5) Die Lehrer hatten keinen Raum, in dem sie ihren Unterricht vorbereiten konnten.
6) Manchen Lehrern, die auch selbst Flüchtlinge waren, fehlte die nötige Qualifizierung, um neben Arabisch auch Englisch, Mathe oder andere Fächer zu unterrichten.
7) Es gab keine Noten – keine Examen oder Klausuren, keine Fortschrittsberichte für die Eltern.
8) Durch die engen Räumlichkeiten und die stark altersgemischten Klassen gab es einige Probleme mit der Disziplin u.ä. unter den Schülern. Durch den „lockeren Rahmen“ nahmen sowohl Schüler als auch Eltern das Programm auch nicht so wirklich ernst – es war eben keine „richtige“ Schule.
Das Leitungsteam von STEP hatte bereits überlegt, in größere Räumlichkeiten umzuziehen. Im vergangenen Jahr baten sie ihre Kollegen von der NES, das Programm zu evaluieren und Änderungen vorzuschlagen. „Als wir die Evaluierung durchführten, stellten wir fest, dass das Programm nicht wirklich so funktioniert wie erhofft“, berichtet Miss Marlene. „Wenn es so weitergeht, dann werden wenige Schüler je in eine normale Schule wechseln können.“
Da die NES kürzlich die offizielle Erlaubnis erhalten hatte, ihre maximale Schülerzahl durch Nachmittagsunterricht zu erhöhen, war es ihnen möglich, ihre Räumlichkeiten für STEP zu öffnen. Da STEP als Nachmittagsprogramm der NES auch offiziell anerkannt ist, bietet das die Möglichkeit, qualifizierende STEP-Schüler beim Bildungsministerium zu registrieren, als ob sie eine reguläre Schule besuchen. Dafür muss die NES eng mit STEP zusammenarbeiten und das Programm regelmäßig evaluieren. Die Leitung bleibt in der Hand von Mrs Caroline, der STEP-Direktorin, aber die Schulleitung der NES überprüft das Programm und gibt Rat wo nötig.
Am 5. November 2019 fand STEP das erste Mal im Schulgebäude der NES statt – durch die Straßenproteste und damit verbundenen Schulschließungen etwas später als geplant.
Was also hat sich geändert?
1) In den Klassenräumen ist deutlich mehr Platz. Die Lehrer sind sehr froh darüber, da die Räume viel mehr Möglichkeiten bieten, den Unterricht ansprechend zu gestalten – sie können unterschiedliche Aktivitäten mit den Kindern machen und sogar die Monitore (für PowerPoint, Videos etc.) in den Klassenräumen nutzen.
2) Die Klassen sind gemäß der Jahrgangsstufe eingeteilt; teilweise lernen noch Kinder verschiedenen Alters zusammen (was sich nicht gänzlich vermeiden lässt, da die Kinder aufgrund der Flucht unterschiedlich viele Jahre Schule verpasst haben), aber die Situation hat sich stark gebessert.
3) Unterricht in allen Fächern wird angeboten, wie in einer regulären Schule. Die Lehrer unterrichten nach dem offiziellen libanesischen Lehrplan, haben alle nötigen Ressourcen und benutzen anerkannte Englischbücher, Mathebücher usw.
4) Die Kinder haben auf dem Schulhof der NES endlich richtig Platz zum Spielen und die größere Fläche kann auch für Aktivitäten im Unterricht genutzt werden.
5) Die Lehrer können das Lehrerzimmer der NES nutzen, um ihren Unterricht vorzubereiten.
6) Derzeit unterrichten 7 Lehrer und Lehrerinnen bei STEP; die Schulleiterin überprüft sorgfältig, dass alle Lehrer die nötigen Qualifizierungen haben. Zwei hatten bereits vorher bei STEP unterrichtet, zwei sind NES-Lehrer und drei Lehrer wurden neu eingestellt (mit Graden in Psychologie und Literatur); mindestens eine Lehrerin ist selbst syrischer Flüchtling.
7) Die Kinder werden regulär benotet, erhalten Zeugnisse und es gibt Elternabende.
8) Durch die neuen Räumlichkeiten hat sich auch die Disziplin enorm verbessert. Schüler und Eltern und auch die Lehrer nehmen den Unterricht jetzt ernst. Die Kinder hoffen sehr, möglichst bald in reguläre NES-Schulklassen wechseln zu können: „Davon träumen sie alle, die Kinder und die Eltern“, sagt Miss Marlene. Regelmäßige Evaluierungen sind geplant, um zu entscheiden, welche Schüler sich genügend verbessert haben, sodass sie in die NES wechseln bzw. offiziell registriert werden können.
In den alten Räumlichkeiten konnten im STEP-Programm nur 40–45 Kinder aufgenommen werden; seit STEP in der NES stattfindet wurde die Zahl auf 100 erhöht. Im November 2019 begannen 98 Kinder den Unterricht im Kindergarten und den Klassen 1 bis 5. Alle stammen aus muslimischen syrischen Flüchtlingsfamilien; die meisten der christlichen irakischen Flüchtlinge, die bisher das Programm besuchten, konnten bereits Visa für westliche Länder erhalten und sind ausgereist. Trotz unterschiedlichem religiösem Hintergrund (Sunniten, Schiiten, Kurden usw.) lernen die Kinder harmonisch miteinander.
Am Ende der ersten Woche ist Mrs Caroline sehr zufrieden. „Die Lehrer sind sehr erfreut über die Änderungen“, berichtet sie, „sie sagen es ist viel entspannter und sie können mehr Unterrichtsstoff bewältigen. Die Disziplin hat sich verbessert, die Schüler haben mehr Platz. Es läuft alles sehr gut!“
Ein Schulplatz im (neuen) STEP-Programm kostet ca. 1.100 Euro pro Kind pro Jahr, davon zahlen ca. 250 Euro die Eltern selbst. Der Gesamtbetrag beinhaltet neben den Lehrergehältern und laufenden Kosten (Strom etc.) auch Bücher, Schulmaterial und Schuluniform sowie Versicherung und die Anfahrt per Schulbus.
Sie können ein Kind im STEP-Programm unterstützen, indem Sie mit Vermerk „STEP“ für die Schulgebühren spenden (850 Euro pro Kind pro Jahr) oder eine Patenschaft übernehmen.