Dumpf liegt der Nebel auf den Hügeln, als wir von Pravets in Richtung Nordosten fahren, umhüllt Häuser und Bäume mit einem trüben Schleier. Die Welt, die sich in den letzten Tagen von ihrer schönsten Sonnenseite gezeigt hat, wirkt plötzlich ganz anders, schweigsam, bedrückend, fast ein wenig bedrohlich. Am Sonntag sind wir angereist, vier Helping Hands Mitarbeiter und Ehrenamtliche aus Deutschland, um das Verteilen der Weihnachtspäckchen in Bulgarien mitzuerleben und einige der Menschen kennenzulernen, denen die Päckchen eine Weihnachtsfreude bereiten. Dabei durften wir am Montag und Dienstag schon viel Freude und vor allem auch Hoffnung erfahren – in Vidrare, wo nach Jahren intensiver Entwicklungs- und Aufklärungsarbeit eine deutliche Änderung im Denken der Menschen spürbar ist; in Tarnava, einem Vorzeigedorf für Roma-Familien, die durch Selbsthilfe ihre Situation verbessern, die sich aber trotzdem herzlich über ein Weihnachtspäckchen freuen, gerade auch deshalb, weil dadurch ihre Eigeninitiative gewürdigt wird.
Heute früh geht es nach Osikovska Lakavitsa – und dort ist nicht nur der Ortsname eine Herausforderung. Denn nicht alle bedürftigen Familien sind, wie in Tarnava, bereit, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, sondern verlassen sich auch gerne mal auf das, was die Regierung ihnen verspricht. Der Unterschied ist nicht zu übersehen: Einige Teile des Ortes erinnern eher an ein Ghetto. Zhana, unsere einheimische Kollegin, begann erst kürzlich in diesem Dorf mit ihrem Dienst und weiß, dass noch eine Menge Aufklärungsarbeit auf sie zukommt, um Eltern nahezulegen, dass Leben nicht nur Überleben ist – und dass ihre Kinder eine bessere Zukunft verdient haben.
Das Schulhaus in Osikovska Lakavitsa ist kalt und deutlich ärmlicher als die Gebäude, die wir in den letzten Tagen besucht haben. Dafür ist der Empfang ebenso herzlich und die Kinder strahlen uns ihr Willkommen entgegen. Ein kleiner Chor, in bunte Tracht gekleidet, singt bulgarische Weihnachtslieder für uns – gar nicht so selbstverständlich, denn keines dieser 47 Roma-Kinder konnte bei der Einschulung Bulgarisch. Hinter den Kindern hängt ein großes Schild, auf dem in Deutsch fein säuberlich aufgeschrieben ist: „Willkommen! Wir freuen uns, dass Sie sich in unserer Schule! Vielen Dank!“ Genau was wir „in unserer Schule“ dürfen, entscheiden wir ganz spontan selbst: Nach der Päckchenverteilung begleiten wir die Kinder in eins der Klassenräume und verbringen ein bisschen echte Zeit mit ihnen: Neben einem Lied und den Zahlen von 1 bis 10 ist da auch Zeit für gemeinsames Lachen, für viele Umarmungen, für die Möglichkeit, den Kindern etwas Liebe und Wertschätzung weiterzugeben.
Leider müssen wir uns allzu früh verabschieden, um zum nächsten Ort weiterzufahren. In Osikovitsa herrscht eine andere Atmosphäre. Zwar gibt es auch hier viel Armut, doch einige der Roma-Familien fügen sich nicht in ihr Schicksal und möchten selbst dazu beitragen, ihren Lebensstandard zu verbessern – „Kämpfer“ nennt eine der Lehrerinnen diese Familien. Trotzdem ist auch dieser Ort nicht ohne Herausforderungen. Wie in vielen anderen Orten leben hier Roma und bulgarische Familien Seite an Seite, und das alles andere als friedlich. Aber in Osikovitsa hat eine gesunde Integration begonnen – dank eines Theatervereins. Die Idee dazu entstand vor zwei Jahren, als Zhana und eine der Lehrerinnen zusammensaßen und überlegten, wie sie dem ethnischen Konflikt in der Siedlung begegnen könnten. Kurz darauf wurde der Theaterverein gegründet, in dem Roma und Bulgaren gemeinsam schauspielern – und das sehr erfolgreich; sogar für einen internationalen Wettbewerb konnte die Theatergruppe sich qualifizieren. Vor allem aber trägt das gemeinsame Projekt enorm zur Konfliktbewältigung bei und unterstützt die Entwicklung der Kinder. “Wir können beobachten, wie das Selbstwertgefühl dieser Kinder jeden Tag wächst – weil jemand sich dafür interessiert, was sie tun”, berichtet uns die Lehrerin, die die Leitung des Theatervereins übernommen hat.
In der Schule wird uns ein kleiner Auszug des diesjährigen Weihnachtsstücks vorgespielt. Dann geht es an die Weihnachtspäckchenverteilung. Dafür sind einige der Eltern in die Schule gekommen, denn für die kleinsten Kinder sind die Päckchen viel zu schwer. Im Schulkorridor, wo wir die Pakete übergeben, ist es ziemlich düster – dafür strahlen die Augen der Kinder umso mehr, als sie ihr Päckchen in Empfang nehmen. Und nicht nur Weihnachtsfreude spiegelt sich in ihren Gesichtern wider – da ist auch eine gewisse Selbstsicherheit, die die stolzen Blicke der Lehrer unterstreicht.
Später besuchen wir noch eine Familie in Osikovitsa. Die Mutter ist vor kurzem mit ihren drei Söhnen hierher zurückgezogen, nachdem der Vater des dritten Sohnes sie verlassen hat. Jetzt leben sie in einer kleinen Hütte auf dem Grundstück ihrer Verwandten, eigentlich nur eine halbe Garage, aber freundlich und warm. Niki, der Jüngste, nimmt das Weihnachtspäckchen in Empfang. Erst schaut er noch etwas skeptisch, schleppt das Päckchen zum Bett, beäugt es kritisch, während der große Bruder es öffnet. Doch mit jedem kleinen Schatz, den er aus dem Päckchen ausgräbt, steigt die Begeisterung. Den Kaffee und Reis reicht er gleich seiner Mutter: “Die sind für dich!” Die erste Tafel Schokolade, die zum Vorschein kommt, erhält noch eine beglückte Umarmung; Tafel zwei und drei werden dann vorsichtig auf dem Bett zurechtgelegt: “Das ist für meine Brüder, denn ohne die kann ich nicht leben!” Auch die Gummibärchen werden brav geteilt: Schon bald zieren drei kleine Häufchen Gummibärchen, fein säuberlich auf Taschentüchern serviert, die Kommode beim Ofen. Fröhlich schaut die Mutter ihrem Vierjährigen zu; man sieht genau, dass sie stolz ist auf ihre Jungs und dankbar für die guten Dinge aus Deutschland, die ihnen das Weihnachtsfest versüßen. Der mittlere Sohn spielt dieses Jahr beim Weihnachtstheaterstück mit: ein kleiner Friedensbote, der gemeinsam mit seinen Mitschülern dazu beiträgt, dass gelungene Integration nicht nur ein Begriff bleibt.
Als wir Osikovitsa verlassen, ist die Landschaft noch immer in Nebel gehüllt. Doch plötzlich schimmert kurz die Sonne hinter dem Wolkenschleier hervor – so wie auch das Dorf erhellt ist von Hoffnungsschimmern in der Gewissheit, dass Armut, Abhängigkeit und Konflikte keine Macht haben müssen. Und auch unsere Weihnachtspäckchen sind so ein Hoffnungsschimmer: ein Zeichen der Liebe, das Kindern und Familien vermittelt, wie wertvoll sie sind.
Seit etlichen Jahren entsendet Helping Hands allweihnachtlich Hilfstransporte nach Rumänien und Bulgarien. Die Weihnachtspäckchen, gefüllt mit allerlei Lebensmitteln und Hygieneartikeln, werden an bedürftige Kinder, Familien und ältere Menschen verteilt und sind oft das einzige Geschenk, das diese Menschen erhalten. Auch in diesem Jahr haben sich zahlreiche Einzelpersonen und Familien im Main-Kinzig-Kreis und ganz Deutschland an der Weihnachtspäckchenaktion beteiligt. Im Namen aller Beschenkten bedanken wir uns für diesen Einsatz!