Wenn „Zuhause“ ein Ort der Bedrohung ist

Ein Rückblick auf unser Jahresprojekt 2022: Das „Heim der Zuflucht“ für OSAEC-Opfer in den Philippinen

„Daheim“, bei Mutter und Vater, im Kreis der Verwandten – das sollte für ein Kind der sicherste Ort sein. Ein Ort der Geborgenheit, der Wertschätzung, der Fürsorge.

Die Kinder, denen unser Partner auf den Philippinen dient, haben es anders erfahren.

Auf den Philippinen ist „OSAEC“ (online sexual abuse and exploitation of children – sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet) eine besonders große Gefahr, denn fast alle Erwachsenen haben Internetzugang und sprechen zumindest etwas Englisch. Die Versuchung ist groß; bei manchen sicherlich aufgrund von Armut, bei anderen durch mangelndes Verständnis, den Wunsch auf „einfaches Geld“, und zerbrochene Familienstrukturen.

Denn OSAEC geschieht fast immer daheim. In den meisten Fällen sind die Eltern – vornehmlich die Mütter oder auch Großmütter – die Täter. Und Kinder jeglichen Alters müssen erfahren, dass ihr Zuhause ein Ort der Bedrohung wird. Oft kommt zur OSAEC-Tat auch noch körperlicher Missbrauch dazu.

Seit einiger Zeit ist OSAEC in den Philippinen als kriminelle Handlung eingestuft. Gemeinsam mit der NPO International Justice Mission identifizieren die lokalen Behörden Opfer von OSAEC und befreien sie mithilfe von Sicherheitskräften. Die befreiten Kinder werden dann – mit Umweg über die Polizeistation, um den Fall aufzunehmen – zum „Heim der Zuflucht“ gebracht, das unser örtlicher Partner vor knapp fünf Jahren auf Anfrage der International Justice Mission als erstes dieser Art auf den Philippinen gründete.

Das „Heim der Zuflucht“ ist ein „Assessment Center“, an dem Kinder, die aus OSAEC-Situationen befreit wurden, über mehrere Monate hinweg intensiv psychotherapeutisch und medizinisch betreut werden. Ziel ist, dass die Kinder Fertigkeiten erlernen, mit ihrem Trauma und den Erfahrungen umzugehen, sodass langfristig Heilung stattfinden kann. Gleichzeitig prüfen die Sozialarbeiter, wann und ob die Kinder bei anderen Familienmitgliedern reintegriert werden können oder erst einmal in eine längerfristige Einrichtung wechseln sollten. Das ist keine einfache Entscheidung, denn da meist die Eltern die Täter sind, kann die Sicherheit der Kinder selten gewährleistet werden. Doch oft gibt es an der Tat unbeteiligte Verwandte, die den Kindern ein neues Zuhause bieten können und von den Sozialarbeitern intensiv begleitet und unterstützt werden.

Die ersten Tage

Zu der Förderung, die ein Kind im „Heim der Zuflucht“ erfährt, gehört u.a. folgendes:

Direkt nach Ankunft erhält das Kind ein „Willkommenspaket“ mit Hygieneartikeln, einem Handtuch, einem Tagebuch, einem Stofftier u.a. Am ersten Tag kümmert eine der fünf „Hausmütter“ sich um das Kind, und sie/er hat Zeit, erst mal alleine das Erlebte zu verarbeiten und sich zu beruhigen – viele Kinder malen oder schreiben gerne in dieser Zeit ins Tagebuch. Zeitgleich treffen sich Sozialarbeiter, Polizei und Heimpersonal, um die grundlegendsten Informationen zu diesem „Fall“ auszutauschen.

Die nächsten drei Tage sind eine „Eingewöhnungsphase“, in denen einerseits die Hausmütter prüfen, welche Dinge die Kinder brauchen (wie Kleidung usw.), und andererseits die Kinder dabei unterstützen, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, und sie an ihr neues „Zuhause“ gewöhnen.

Danach beginnt eine 14-tätige Phase, in der die Kinder psychologisch und medizinisch untersucht werden und auch viele Gespräche mit der Sozialarbeiterin des Heims haben. Das Team des Heims trifft sich dann, um zu besprechen, was das Kind an Förderung benötigt. Gleichzeitig beginnt auch der Familien-Sozialarbeiter, Informationen über die Familie einzuholen. Somit kann nach ca. einem Monat schon festgestellt werden, ob die Chance besteht, dass das Kind bei Familienmitgliedern reintegriert werden kann oder später zu einer Pflegefamilie oder in ein anderes Heim wechseln sollte.

Umfassende Förderung

Ein Kind bleibt in der Regel mindestens drei Monate im „Heim der Zuflucht“, da so viel Zeit benötigt wird, um alle Aspekte der Situation umfassend zu beurteilen. Manchmal bleiben Kinder auch länger, bis zu sechs Monate, wenn es schwierig ist, ein neues Zuhause für sie zu finden – das ist vor allem bei Jungen der Fall, da nur sehr wenige Einrichtungen Jungen annehmen, sowie bei Geschwistergruppen (viele der betroffenen Kinder kommen in Geschwistergruppen, da OSAEC in der Regel zuhause stattfindet und meist alle Kinder einer Familie betroffen sind), damit diese nicht getrennt werden.

In dieser Zeit gehört zum Tagesplan der Kinder:

-> Psychotherapiesitzungen, alleine und in der Gruppe – Die Kinder sind sehr dankbar für diese Treffen, vor allem wenn sie merken, dass der Heilungsprozess beginnt. Die erste Einschätzung findet mit einem externen Psychologen statt; die Therapie dann mit der Psychologin des Heims bzw. der Sozialarbeiterin. Dazu gehört auch „Psychoedukation“, sowie ein Verständnis für die Gefahren und Auswirkungen von OSAEC zu vermitteln.

-> grundlegende Hygiene wie Händewaschen, duschen usw. – Da viele Kinder aus den Elendsvierteln kommen, fehlen ihnen oft diese Kenntnisse. Zusätzlich werden den Kindern auch positive Verhaltensweisen beigebracht.

-> medizinische Fürsorge

-> Schulbildung – Die Kinder lernen per Fernunterricht an ihren eigenen Schulen (dieses „Modular Learning“ Modell hat sich während der Pandemie erfolgreich herausgebildet) und werden an vier Tagen pro Woche durch eine Hauslehrerin unterstützt. Der Fernunterricht nimmt nur wenige Stunden des Tagesablaufs ein, da die Kinder stark traumatisiert sind und zu viel Lerndruck im Rahmen des Heilungsprozesses überwältigend sein kann. Manche Kinder sind auf einem normalen Lernniveau, andere sind einige Jahre hinter ihren Altersgenossen zurückgeblieben und brauchen gesonderte Förderung.

-> Fertigkeiten für den Haushalt wie z.B. Kochen und Wäsche waschen – Das Heim lehrt den Kindern auch solche Fähigkeiten, damit sie sich später um ihren eigenen Haushalt bzw. ihre Familie adäquat kümmern können.

-> körperliche Aktivitäten, z.B. Jiu-Jitsu und Zumba – Die meisten Kinder lieben es zu tanzen und haben hier im Heim das Gefühl, dass sie unbeschwert tanzen können, ohne verurteilt zu werden.

-> Nach dem Mittagessen ist Zeit für einen Mittagsschlaf, dann folgen meist Kunst- bzw. Bastelaktivitäten, zwei Stunden Zeit zum Spielen auf dem Spielplatz des Heims, Abendessen und eine Abschlussrunde, wo sich über den Tag ausgetauscht wird. Zu jeder Zeit sind mindestens zwei Hausmütter sowie die Wächterin vor Ort und kümmern sich um alle Bedürfnisse der Kinder.

-> Jeden Dienstag dürfen die Kinder per Videogespräch ihre Familien treffen; gelegentlich findet auch ein Treffen in Person (außerhalb des Heims) mit bis zu drei an der Tat unbeteiligten Familienmitgliedern statt.

Der Heilungsprozess

Natürlich kann in drei Monaten keine völlige Heilung stattfinden. Deshalb konzentriert sich das „Heim der Zuflucht“ darauf, den Kindern die nötigen Fertigkeiten mitzugeben, sodass der Heilungsprozess, der im Heim begonnen hat, langfristig weitergeführt werden kann. Eine sehr detaillierte „Fallbearbeitung“ hilft dabei, alle nötigen Eingriffe zu bestimmen, damit der Heilungsprozess in Gang gebracht wird und vor allem nach Reintegration kein ähnliches Trauma geschehen kann. Dafür sind alle Mitarbeiter des Heims in traumainformierter Pflege geschult und die Kinder sind an allen Prozessen voll beteiligt. Das Kind ist zwar am Ende nicht völlig „verwandelt“, aber die Veränderung hat begonnen und sie/er besitzt Fertigkeiten zur sogenannten „Selbstregulierung“ und weiß, wie er/sie mit herausfordernden Situationen umgehen kann. Selbstverständlich werden die Kinder auch nach Verlassen des Heims von den Sozialarbeitern regelmäßig begleitet und besucht; in anderen Heimen stehen ihnen weitere Sozialarbeiter zur Verfügung.

Dass der Heilungsprozess in drei Monaten bereits ein gutes Stück voranschreiten kann, liegt u.a. daran, dass das „Heim der Zuflucht“ nur Kinder aus OSAEC-Situationen aufnimmt und somit jedes Kind andere Kinder kennenlernen kann, die sehr ähnliches durchgemacht haben und einander verstehen und sich gegenseitig helfen, Trauma zu verarbeiten. Vor allem aber ist das Heim nicht nur ein „Assessment Center“, sondern ein intaktes Zuhause, wie eine große Familie, in der sich alle um einander kümmern. Jayson, der Familiensozialarbeiter, zum Beispiel fühlt sich wie ein „großer Bruder“, spielt und lacht mit den Kindern, hört ihnen zu, gibt Wissen und Fertigkeiten weiter. Dieser Effekt wird auch bestärkt durch die Tatsache, dass das Heim seit Gründung dieselben Mitarbeiter hat, und so eine gut funktionierende Zusammenarbeit entwickelt werden konnte.

Reintegration und Begleitung

Leider können nur wenige Kinder tatsächlich in ihre Familien reintegriert werden. Um das möglich zu machen, prüft Jayson über mehrere Monate hinweg die Situation sehr genau, um sicherzustellen, dass das Kind in ein geschütztes Umfeld kommt und dort auch die nötige Unterstützung hat, dass der Heilungsprozess fortlaufen kann. Dafür muss Jayson erst einmal herausfinden, welche Familienmitglieder an der Tat beteiligt waren. Mit den in Frage kommenden unbeteiligten Personen geht er dann ein umfassendes Schulungsprogramm durch, in dem auch Bewusstsein für OSAEC vermittelt wird und die Familien lernen, wie sie die Kinder bestmöglich in ihrer Entwicklung fördern können. Nach Reintegration begleitet Jayson die Kinder noch über längere Zeit hinweg.

Wenn kein Familienmitglied die Kinder aufnehmen kann, wird nach einer Pflegefamilie gesucht. Leider gibt es derzeit nur sehr wenige Pflegefamilien auf den Philippinen; hier leistet das Heim auch Aufklärungsarbeit. Daher müssen viele Kinder letztendlich in eine andere Einrichtung wechseln, damit dort ihre Therapie weitergeführt werden kann. Allerdings wird auch dort weiterhin daran gearbeitet, dass die Kinder früher oder später in eine Familiensituation wechseln können; zahlreiche Kinder konnten so schlussendlich zu ihren Familien zurückkehren. Mit allen Kindern finden auch Monate oder Jahre später noch Treffen oder Videokonferenz statt, um Updates über ihre Situation zu erhalten.

Nachhaltige Veränderung

Das „Heim der Zuflucht“ ist ein wichtiges Bindeglied in den einzelnen Entwicklungsschritten, die ein Kind durchlaufen muss, um aus einer OSAEC-Situation zurück zu einem gesunden, sicheren und erfüllten Leben zu gelangen. Stephen, Gründer des Heims, fasst es so zusammen:

„Wir bieten den Kindern einen Ort, an dem sie ihr Leben neu beginnen und einen Prozess der Veränderung starten können. Diese Kinder haben Träume in ihrem Leben, und einige Kinder sagen später: Ich möchte mich gegen OSAEC engagieren, ich möchte eines Tages Hausmutter oder Hausvater werden! Wir schaffen Hoffnung für diese Kinder.“

 

Derzeitiger Bedarf im „Heim der Zuflucht“

Das Heim finanziert sich ausschließlich durch Spenden; für 2023 wird noch viel Unterstützung benötigt, u.a. weil sich auch auf den Philippinen die Lebenshaltungskosten stark erhöht haben. Zum derzeitigen Bedarf gehört:

-> Die Räumlichkeiten müssten erweitert werden, sowohl um mehr Aktivitäten durchzuführen, als auch, um mehr Kinder aufzunehmen. Derzeit bietet das Heim Platz für ca. 15 Kinder, aber der Bedarf ist riesig – wenn das Heim voll ist, müssen neu befreite Kinder abgewiesen werden, bis ein Kind aus dem Heim weitervermittelt werden kann.

-> Das Gebäude ist sehr alt und müsste dringend renoviert werden, vor allem die Küche, aber auch die Kinderzimmer. Dafür ist bereits ein Plan erstellt. Ggf. könnte auf den Bürobereich noch ein weiteres Stockwerk gebaut werden.

-> Als dringend benötigtes Element der Therapie möchte das Heim möglichst zeitnah einen „sensory room“ (Sinnesraum/Wahrnehmungsraum) einrichten, wo die Kinder sich aufhalten können, um ihre negativen Emotionen zu verarbeiten. Der Raum soll als kinderfreundlicher Raum mit Wandmalerei, geeinigtem Mobiliar und Spielzeug ausgestattet werden sowie verschiedenes Material enthalten, das die Sinne fördert – zum Beispiel Musikinstrumente, Hüpfbälle, elastische Bänder, Hoola Hoop Reifen, Lego, Glöckchen, Miniaturen u.ä. Dafür wird daran gearbeitet, dass das Büro in ein angrenzendes Gebäude umzieht, sodass der derzeitige Büroraum als sensory room umgestaltet werden kann.

-> Da das Fahrzeug des Heims sehr alt ist und sehr häufig repariert werden muss, sollte es möglichst ersetzt werden. Das Fahrzeug wird u.a. benötigt, um Kinder zur Klinik und zu Gerichtsverhandlungen zu fahren.

In Zahlen

Sensory room – 20.000 EUR

Fahrzeug – 16.500 EUR

Gesamtkosten pro Kind pro Monat – ca. 350 EUR

Das „Heim der Zuflucht“ hat begonnen, lokale Partnerschaften mit Kirchen und Unternehmen (als Teil ihres „Social Responsibility Programme“) auf den Philippinen aufzubauen, um langfristig die Kosten vor Ort decken zu können; das trägt auch dazu bei, das Bewusstsein für die Gefahren von OSAEC zu verstärken. Etwas Einkommen wird auch generiert durch Schmuck, den die Mitarbeiter herstellen und verkaufen, sowie Bastelarbeiten der Kinder. Derzeit ist das Heim allerdings noch stark auf Unterstützung von außerhalb angewiesen.

Für das „Jahresprojekt 2022“ standen bis Ende April knapp 9000 EUR zur Verfügung; derzeit wird geprüft, wie Helping Hands sich am sinnvollsten im „Heim der Zuflucht“ engagieren kann.

Wenn Sie das „Heim der Zuflucht“ darin unterstützen möchten, noch mehr Kindern eine Zuflucht zu bieten, dann wählen Sie bitte bei der Online-Spende das Projekt „Heim der Zuflucht (Philippinen)“.

 

Hinweis: Bisher hatten wir über dieses Projekt als „Schechem-Home“ berichtet; „Heim der Zuflucht“ gibt die Bedeutung des Namens in etwa in Deutsch wieder.

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