paXan 2016 Moldawien

paXan 2016 Moldawien:
Ein Abend Leben

Sie kauern am Fuß der Brücke, die über die Eisenbahngleise führt; kaum heben sie den Blick, wenn auf den Stufen Schritte erklingen, murmeln ein paar Worte und starren in ihre Hand, die ein paar wenige Münzen enthält. Andere sitzen im Hof hinter dem Obdachlosenheim, suchen unter Bäumen und in einer kleinen wackeligen Laube etwas Schutz vor der sengenden Hitze und warten darauf, dass der lange, leere Tag sich zu Ende neigt.

Ihre Gesellschaft hat sie längst vergessen. Im Obdachlosenheim erhalten sie ein Abendessen auf Blechtellern und einen Schlafplatz, wenn nötig medizinische Versorgung – weniger, als man einem Haustier bieten würde. Kaum einer sieht sie als Menschen an; kaum einer gönnt ihnen etwas, das sich „Leben“ nennen könnte. Sie wirken wie Statisten – Inventar des Bühnenbilds, vor dem sich der Alltag im Moldawien des einundzwanzigsten Jahrhunderts abspielt.

Aber jeder dieser Menschen hat einen Namen. Jeder hat eine Geschichte, eine Gegenwart – und eine Zukunft. Vitali Adolphowitsch, der mit seinem Kumpel, kriegsversehrter Veteran aus dem Afghanistan-Krieg, an der Brücke ausharrt und uns mit schwachen Handbewegungen verdeutlicht, dass man ihn in der Sowjetunion schon längst „beseitigt“ hätte. Marina, die liebevoll alle Pflanzen im Obdachlosenheim gießt und uns von ihrem Sohn erzählt, der auf dem Land Gemüse verkauft. Lucia, die immer ein Lächeln auf dem Gesicht hat und von einer Reise nach Italien träumt. Oder Valeri der Physiker, dem von einer Schweizer Firma sein Patent gestohlen wurde und der nun vor dem Obdachlosenheim in der Sonne sitzt und auf Schmierzetteln neue Automotoren entwickelt.

Einige dieser besonderen Menschen dürfen wir bei unserem paXan-Einsatz in Moldawien kennenlernen. Und ihnen das schenken, was ihre Gesellschaft und auch oft ihre Familien ihnen schon lange verwehrt: das Wissen, wertvolle und geliebte Menschen zu sein.

Es ist Samstagabend im Obdachlosenheim in Chişinău, Moldawien. Eine Woche lang hat unser paXan-Team aus 11 Jungerwachsenen sich mit ganzer Energie eingesetzt. Im ersten Stock wurden in drei Räumen Decken, Wände und Fensterbänke abgeschmirgelt, gespachtelt und in leuchtendem Rehabilitations-Gelb frisch gestrichen sowie in zwei Räumen und im Flur neuer PVC-Boden verlegt. Der Speisesaal im Erdgeschoss hat währenddessen eine Grundsanierung erhalten: Die Wand bei der Essensausgabe ist nun gefliest, vier neue Fenster sind eingesetzt und verputzt, alles ist frisch gestrichen, mit Leisten verziert und zum Schluss noch einmal ordentlich gesäubert. Jetzt erstrahlt der Raum in neuem Glanz und wartet darauf, in Kürze von Sergej und Irina, unseren „Kollegen“ vor Ort, als Räumlichkeit für verschiedene Dienste für die Menschen im Heim genutzt zu werden.

Aber noch ist es nicht so weit. Heute steht ein anderer Höhepunkt auf dem Programm. Viele Stunden haben wir uns darauf vorbereitet: ein hektischer Einkauf im moldauischen Supermarkt (durchaus eine Herausforderung, wenn man die Etiketten nicht lesen kann), drei Stunden Vorbereitung eines vortrefflichen Drei-Gänge-Menüs von unserem Chefkoch Dean, unterstützt durch das fleißige Küchenteam, während das Service-Team den frisch renovierten Speisesaal in ein Fünf-Sterne-Restaurant verwandelt hat: mit Tischdecken, Läufern, Servietten, Kerzen und Blumen liebevoll verzierte Tische, akkurat nach Knigge gedeckt mit ausgeliehenem Porzellan und Weingläsern, in denen selbstverständlich kein Alkohol serviert werden wird. Jetzt ist es kurz nach Acht; die Kerzen sind entzündet, sanfte Geigenmusik füllt den Raum und Küchen- und Service-Team stehen bereit.

Die Tür öffnet sich. Die erste Frau tritt ein. Ihr Lächeln zerfließt in sprachloses Erstaunen, das nach wenigen Augenblicken in ein noch strahlenderes Lächeln zerbricht. Weitere Frauen folgen, blicken ungläubig auf die Tische, durch den Raum, bleiben erst einmal fassungslos stehen. Erst nach ein paar Minuten trauen sie sich, ihre Plätze an den Tafeln einzunehmen, sitzen dann dort und raunen einander zu. Einer Frau rinnen die Tränen über das Gesicht.

Die Männer schreiten etwas forscher in den Speisesaal, scharen sich gemeinsam um einen Tisch und schauen uns erwartungsvoll an. Nach ein paar einladenden Worten von Simon, übersetzt von Irina, kann das Dinner beginnen. Den ersten Gang servieren wir noch an eher stillen Tischen. Aber schon bald löst das gute Essen die Zungen unserer Gäste. Fröhliche Unterhaltung füllt den Raum, während die Frauen und Männer das Essen genießen. An anderen Tagen wird die Abendmahlzeit sonst eher stumm eingenommen. Aber heute Abend erhellt eine zuversichtliche Gemeinschaft den Speisesaal, die das flackernde Kerzenlicht in den strahlenden Augen unserer Gäste noch übertrifft.

Auf die Vorspeise folgt der Hauptgang: Schweinebraten in Soße mit Gemüse. Eine Frau hilft ihrer Tischnachbarin, deren Hand verkrümmt ist, beim Schneiden des einmaligen Schmauses. Auch Solidarität und Hilfsbereitschaft sind Eigenschaften, die manchmal durch Not und Leid verkümmern – aber an diesem Abend erfahren die Obdachlosen so viel Liebe, dass sie großzügig davon weitergeben können. Bis das Dessert serviert wird, hat eine warme, herzliche Atmosphäre den Raum durchdrungen.

Lucia, die wir schon am Dienstagabend kennenlernen durften, als wir den Frauen des Heims eine Maniküre anboten, fasst ihre Freude und Dankbarkeit in Worte: “Ihr habt gesagt, dass ihr für den Samstagabend etwas Besonderes für uns geplant habt. Aber so etwas hatten wir nicht erwartet!” Und auch die anderen sind überwältigt: “So etwas hat noch nie jemand für uns getan. Wir werden es auch bestimmt nie wieder erleben – aber diesen einen Abend durften wir haben!”

Nach dem Dinner sitzen die Frauen noch lange in ihren Zimmern auf den Betten und reden aufgeregt über das Unerwartete, das Außerordentliche, das ihnen gerade widerfahren ist. Mit dabei ist eine ältere Frau, die sich bisher immer stumm und verschlossen im Hintergrund hielt und an nichts Interesse zeigte. Aber heute ist sie wie verwandelt: Freudig spricht sie mit ihren Zimmerkameradinnen, erzählt und hört zu und weiß plötzlich, dass diese Frauen wertvoll sind, wie auch sie selbst wertvoll ist.

Währenddessen sitzen wir als Team im nun leeren Speisesaal und lassen uns die Überreste des Dinners schmecken – müde und erschöpft, aber zufrieden und glücklich. Denn wir wissen, dass unser Einsatz absolut erfolgreich war. Für Irina und Sergej konnten wir eine Tür öffnen und Verbindungen knüpfen, die ihnen ermöglichen, mit den Obdachlosen nachhaltige Arbeit zu beginnen. Viele dieser Menschen sind alkoholabhängig, und daher möchte Sergej Anfang 2017 ein Rehabilitationszentrum gründen, von denen es in Moldawien – dem Land mit der höchsten Alkoholabhängigkeit weltweit – fast keine gibt. Darüber hinaus haben wir es geschafft, diesen Frauen und Männern, die ihre Gesellschaft kaum als Menschen akzeptiert, durch unsere Arbeit und das Dinner echte Wertschätzung zu vermitteln. Ein Abend, den sie nie vergessen werden: Für uns wäre das vielleicht nicht viel. Für diese Menschen aber ist es inmitten von Ohnmacht und Wertlosigkeit ein Abend Leben.

 

© 2016 Helping Hands e.V. Bitte diesen Bericht (auch nicht auszugsweise) nicht ohne schriftliche Genehmigung weiterverwenden.

E-NEWSLETTER ABONNIEREN

"Engagiert. Erlebt. Erzählt." Immer aktuell!