Mitten aus dem Kriegsgeschehen in der Ukraine ins stille Unterfranken: Der Lindenhof an den Kahler Seen hieß im Mai 2022 zwanzig Waisenkinder und zehn Betreuer aus Kiew willkommen. Viele Ehrenamtliche standen bereit – eine Gruppe von Kahler Bürgern, die sich schon seit 2015 um Migranten und Flüchtlinge kümmern, Mitglieder der Christlichen Initiative in Alzenau und verschiedene andere Helfer.
Anfangs wirkte alles auch wegen dem guten Wetter eher wie ein längerer Urlaub. Doch Nachrichten und Internet ließ vor allem die Mitarbeiter nicht vergessen, dass zu Hause der Krieg tobte, und Verwandte und Freunde mit dem schlimmsten rechnen mussten. In den ersten Wochen war die Hoffnung groß, dass „wir bald wieder nach Kiew zurückkehren können“. Doch die Wochen dehnten sich in Monate und immer mehr wurde klar: Wir brauchen eine zweite Heimat!
Viele neue Freunde, Geschäftsleute, Firmen und Organisationen halfen bei den ersten Schritten – u.a. die Evonik Industries AG, die seit Juni 2022 die 30 Bewohner des Lindenhofs werktags durch die Kantine des Evonik-Standortes Hanau mit einem reichhaltigen Mittagessen versorgt. Kleidung, Spielzeug, Transport, Zoobesuche und viele andere Aktivitäten sorgen für ein „normales“ Leben, und die meisten Kinder besuchen inzwischen die nahegelegene Paul-Gerhardt-Schule.
Dort wurden die Mädchen und Jungen mit offenen Armen willkommen geheißen. „Die Schule ist prima, der Unterricht interessant und die Lehrer sind gut. Es gibt sogar einen Fußballplatz“, meint einer der neuen Schüler. Und alle sind dankbar für Agnes, die sich seit vielen Monaten intensiv bemüht, allen Deutsch beizubringen.
„Alles bestens“, könnte man sagen. Und doch bleiben Fragen: Viele der Spezialisten, die die Sozial- und Vollwaisen normalerweise betreuen, mussten in der Ukraine bleiben. Die Reintegration der Kinder in Familien und bei Adoptiveltern musste unterbrochen werden. Und wie lange können die Firmen und Stiftungen, die bisher großartig geholfen haben, ihre Unterstützung fortführen? Wie geht es nach der Rückkehr weiter und ist eine Rückkehr überhaupt möglich?
Das sind Fragen, die nicht nur das Lindenhof-Team und all die Helfer beschäftigen. Auch viele andere Freunde aus der Ukraine in unserem Land stehen vor denselben Fragen. Ein „damit können wir uns später beschäftigen“ genügt nicht. Wirkungsvoll und nachhaltig wird die Arbeit nur, wenn wir rechtzeitig für die Zukunft planen. Anders gesagt, wenn wir wirklich an einer neuen Heimat arbeiten und eine hoffnungsvolle Zukunft ermöglichen.