Der erste Schritt

Auch NES-Schüler sind von den Erdbeben betroffen

In Nordsyrien und der Türkei schwindet die Hoffnung auf Wunder unter den Trümmern. Fast 44.000 Todesopfer wurden inzwischen geborgen. Die Überlebenden kämpfen mit Hunger und Kälte, Krankheit und Schmerz. Manche Hilfsgütertransporte erreichen die betroffenen Gebiete, andere werden an der Grenze zurückgewiesen. Die Verzweiflung wächst.

Und auch außerhalb der am stärksten betroffenen Gebiete leiden Menschen unter den Folgen des Erdbebens. Viele der Schüler an der NES, unserem Partner in Beirut, wohnen in alten Gebäuden, die durch die Hafen-Explosion im August 2020 stark beschädigt wurden. Die Beben, die auch im Libanon alles erschütterten, haben diese Häuser noch unsicherer gemacht; mindestens eine Familie musste bei Verwandten unterkommen, weil ihr Gebäude nun einsturzgefährdet ist. Und auch die Schule selbst ist betroffen, da sie in Hafennähe liegt.

Ein neues Trauma

Aber am schlimmsten ist das wiederholte Trauma. Sara, Psychotherapeutin der NES-Schule, beschreibt:

„Seit der Explosion haben wir uns intensiv um die Kinder gekümmert, um das Trauma zu verarbeiten – die meisten Kinder leiden unter PTBS. Dann kam das Erdbeben und hat alles wieder hervorgeholt und ein neues Trauma ausgelöst.

Ein großes Problem ist, dass die Eltern selbst nicht gelernt haben, mit ihrer Angst umzugehen und ihre Gefühle auszudrücken. Aber natürlich spüren die Kinder die Angst ihrer Eltern. Die Tage nach dem Erdbeben saßen sie alle daheim, die Eltern waren ständig nervös, hatten Pass, Geld, Schlüssel bereit, um zu fliehen; der Fernseher war durchgehend an und die Kinder sahen die Zerstörung und wie Menschen aus den Trümmern gezogen wurden. Zuhause sollte ein sicherer Ort sein, aber die Kinder sehen, wie viel Angst ihre Eltern haben und nicht wissen, was sie tun sollen, das macht es für die Kinder noch schlimmer; sie sehen die Anspannung und können es nicht verarbeiten. Nachts können sie nicht schlafen, sie liegen da und warten, unentwegt, dass etwas noch Schlimmeres passiert.“

Wenn man die ersten Nächte nach den Beben durch Beirut fuhr, sah man an Straßenecken, unter Brücken, auf Parkplätzen zahlreiche Gruppen von Menschen, in Decken gehüllt gegen die Kälte, die Angst hatten, in ihren Wohnungen zu schlafen. Und noch immer sind Nachbeben in Beirut zu spüren, die dafür sorgen, dass die Angst tagtäglich präsent bleibt. Für viele Familien bringt das auch Erinnerungen hoch an Flucht und Furcht im Bürgerkrieg.

Die syrischen Schüler leiden am meisten

„Bei den syrischen Schülern sind die Auswirkungen stärker, das können wir sehen“, erläutert Sara. „In Syrien mussten sie schon einmal in ihren Schlafanzügen aus dem Haus rennen und sehen, wie es einstürzte, dann kamen sie in den Libanon und fühlten sich sicher, aber dann die Explosion, wieder mussten sie rennen, dann das Erdbeben, und wieder sind sie in ihren Schlafanzügen und rennen … Das Schlimme ist, dass die Eltern auch nicht wissen, wie sie auf die Angst ihrer Kinder reagieren sollen. Viele der Kinder haben Panikattacken, und die Eltern wissen nicht, wie sie damit umgehen können.“

Und es ist durchaus nicht nur eine Erinnerung, unter der die Kinder leiden. Einige Schüler der NES haben in den Erdbeben nahe Verwandte verloren – die meisten in Syrien, manche als Flüchtlinge in der Türkei. Raia* aus der 9. Klasse ist vor Jahren aus Syrien geflohen; in der Explosion starb ihr Schwager, seine Leiche wurde nie gefunden. Jetzt trauert sie über den Verlust von Onkel, Tanten und Cousins in Syrien. Maryam*, ebenfalls in der 9. Klasse, schreibt:

„Wir können nicht lernen, wir können kein Buch öffnen wegen dem Trauma, viele von uns schlafen nachts nicht, viele können nicht in ihrem Haus bleiben, weil das Gebäude so alt ist, manche von uns haben Familie in Syrien verloren, diese Zeit ist schrecklich für uns.“

Die NES: Eine Oase des Friedens

Und auch jetzt ist die NES-Schule eine Oase des Friedens im Chaos. Sie bietet den Kindern ein sicheres, fürsorgliches Umfeld, wo sie sich so angenommen fühlen, wie sie sind – mit all ihren Ängsten, Sorgen und Hoffnungen. Sara, die Psychotherapeutin, Nissrine, die Krankenschwester, Josette, Verantwortliche für die Schüler, aber auch die Lehrer sind stets für die Kinder da, hören zu, geben Rat, unterstützen, wo sie können. Die Schüler sind sehr dankbar dafür und kommen selbst, um nach Rat zu fragen – „das ist sehr wichtig“, sagt Sara, „der erste Schritt zu einer besseren Zukunft.“

In den nächsten Wochen wird das Personal der NES-Schule sich intensiv darum kümmern, den Kindern wieder neuen Halt zu geben. Einerseits geschieht das durch regulären Schulunterricht, der in der derzeitigen verheerenden Wirtschaftskrise im Libanon alles andere als selbstverständlich ist. Andererseits steht – wieder einmal – Trauma-Seelsorge auf dem Programm, für die Kinder, aber auch für die Eltern. Darüber hinaus ist geplant, Kinder und Familien besser auf Katastrophen vorzubereiten, um gegen die ständige Angst und das Gefühl der Ohnmacht anzukämpfen. Zu diesen Präventionsmaßnahmen gehört auch, dass das Schulgebäude strukturell überprüft und ggf. saniert wird.

Der erste Schritt

Natürlich stehen für uns im Rahmen der Erdbeben-Not- und Wiederaufbauhilfe besonders die Menschen in Nordsyrien im Fokus, da dort noch am wenigsten Hilfe angekommen ist. Doch wenn möglich möchten wir auch im Libanon Maßnahmen zur langfristigen Heilung und Prävention fördern. Denn jedes Kind, das selbstbewusst und ohne Angst ins Morgen schauen kann, ist ein Schritt zu einer besseren Zukunft.

Wenn Sie uns und unsere Kollegen in Beirut darin unterstützen möchten, sowohl an der NES-Schule als auch in Nordsyrien Hoffnung für ein besseres Morgen zu schenken, dann spenden Sie bitte mit Vermerk „Katastrophenhilfe Naher Osten“ über unsere Online-Spende oder per Überweisung auf unser Konto (IBAN: DE56 5075 0094 0000 022394).

Hier hören und sehen Sie in einem Video-Bericht von der NES, wie die Erdbeben die Schüler betroffen haben.

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